Schon aufgrund der bemerkenswerten Statistiken ist es wichtig, dieses Thema immer wieder in den Fokus zu stellen. Die zunehmende Professionalisierung unseres Gesundheitsberufes und der eigene Wissensdurst verlangt es, über den aktuellen wissenschaftlichen Stand Bescheid zu wissen.
Jeder zweite Bundesbürger (53 Prozent) ab 14 Jahren klagt pro Jahr über Rückenschmerzen. 30 Prozent der Bundesbürger sind wegen ihrer Rückenschmerzen sogar in ärztlicher Behandlung (BKK Bundesverband).
Rückenschmerzen belegen Rang 2 (nach Atemwegsinfektionen) bei der Arbeitsunfähigkeitsquote. Betroffene Mitarbeiter sind im Durchschnitt 14 Tage pro Jahr arbeitsunfähig bzw. krankgeschrieben (BKK Gesundheitsreport, 2019).
Es ist mit weitem Abstand die häufigste Diagnose durch Orthopädinnen (40% aller Behandlungsfälle) und die dritthäufigste durch Allgemeinmedizinerinnen (16,7% aller Behandlungsfälle (IKK, 2020).
Das sind alarmierende Zahlen. Für den akuten Rückenschmerz gibt es jedoch normalerweise eine gute Prognose. Innerhalb weniger Wochen verbessern sich die Schmerzen bei 75% – 90% der Betroffenen (Grotle M. et al. 2005, Coste J. et al. 1994), was eine deutliche Mehrheit darstellt.
Bei bislang unbekannten, plötzlich auftretenden Beschwerden ist es wichtig, dass eine professionelle Abklärung durch einen Arzt erfolgt. Es wird zunächst untersucht, ob es eine eindeutige Ursache für das Leiden gibt. Diese spezifischen, einer klaren Diagnose zuzuordnenden Rückenschmerzen machen jedoch nur 10 – 15% aller Ursachen aus (O´Sullivan, 2005). Bei eindeutigen Hinweisen wird mit Hilfe von bildgebenden Verfahren (u.a. MRT, Röntgen, CT) ein klareres strukturelles Bild gezeichnet und etwaige bestehende Gefahrensituationen ausgeschlossen.
Viel häufiger, nämlich mit 85 – 90%, schlägt der unspezifische Rückenschmerz zu Buche (siehe Abbildung).
Es können verschiedene Strukturen wie Nerven, Muskeln (inkl. fasziale Strukturen) und Gelenke sowie angrenzende Bereiche an der Wirbelsäule betroffen sein. Physikalische Anwendungen (u.a. Wärmetherapie, Elektrotherapie), medikamentöse Therapie, Akupunktur, gezielte Injektionen und Bewegungstherapie können zum Einsatz kommen.
Je vielschichtiger und komplexer die Zusammenhänge des unspezifischen Rückenschmerzes sind, desto eher kommt der Einsatz von geschulten und dafür ausgebildeten Manualtherapeuten in Frage.
Neben der exakten Differenzierung beteiligter Strukturen und Bereichen geht es vor allem darum, zu erkunden, ob ein entsprechendes Bewegungsverhalten oder bestimmtes Muster für die Beschwerden verantwortlich sind und ob diese geändert werden müssen. Es kommen in der Regel spezifische manuelle Techniken zum Einsatz, die durch evidenz-basierte Übungen mit Anleitung und sonstigen Interventionen wie professionelles Taping ergänzt werden. Alle Maßnahmen werden umgehend auf ihre Effektivität geprüft.
Ebenfalls ist es wichtig, dass der Patient sein Problem versteht. Aufklärung spielt neben den oben genannten Maßnahmen eine essenzielle Rolle in der Therapie. Der Patient soll im günstigsten Fall zum Experten für seinen eigenen Bewegungsapparat ausgebildet werden.
Wenn Beschwerden nicht verschwinden wollen:
Dauerhafte, immer wiederkehrende Schmerzreize können das Nervensystem sensibilisieren. Dadurch werden relativ harmlose Schmerzreize als bereits bedrohlich interpretiert (Stam, 2011). Gerade Nerven haben das Potential dauerhaft sensibilisiert zu bleiben. Sie vergessen nicht so schnell, was passiert ist. Auch hier ist eine gewisse Aufklärung des Patienten gefragt, denn nicht jeder Schmerz bedeutet, dass das Gewebe einen Schaden erlitten hat.
Zudem sind psychosoziale Aspekte wie Angst oder negative Gedankengänge bekannte Risikofaktoren für chronifizierten Rückenschmerz (Kenndall & Main 1997, Linton 2005, Vlaeyen & Linton 2000, Nilesen et al., 2007, Dedovic et al., 2009).
Auch Stressbelastungen können mit Beschwerden in Verbindung stehen und diese sogar verursachen. Falls diese Informationen vorhanden sind, sollte es auch eine therapeutische Konsequenz haben (Böttcher 2020).
Eine der künftigen großen Herausforderung in der Physiotherapie ist es, die Beteiligung solcher Einflussfaktoren zu erkennen. Es geht darum, dem Patienten zu vermitteln, wie er seine körpereigenen regenerativen Kräfte aktivieren kann. Viele überlagerten Probleme und Beschwerden können erst dann richtig behandelt werden. Hier können beispielsweise Entspannungsübungen zum Einsatz kommen.
Für ein maßgeschneidertes Therapieangebot kann es notwenig sein, mit mehreren therapeutischen Fachdisziplinen und Ärzten zusammenzuarbeiten. Physiotherapeuten erfüllen hierbei häufig eine wichtige Vermittlungsrolle.
Für Patienten ist es sehr wichtig, die aktuelle Situation lösungsorientiert anzunehmen und nicht unnötig zu hadern. Beim Erfüllen des aktiven Partes der Therapie ist es von enormer Bedeutung, dass der Patient spürt, wie wirksam gezielte Übungsreize sind. Wir sprechen hier von Selbstwirksamkeitserfahrungen. Der Patient soll zu jederzeit das Gefühl haben, selbstregulierend in das Geschehen des Rückenschmerzes eingreifen zu können.